Wer sich mit heidnischen Göttern beschäftigt, muss sich von Vorstellungen über Göttlichkeit, wie sie das Christentum lehrt, gründlich befreien. Ein Gott im Heidentum ist kein abstraktes, jenseitiges, ewiges, allmächtiges Wesen, das über der Welt schwebt und sie von außen regiert, kein "reiner Geist" und keine moralische Instanz, die ausschließlich das so genannte Gute verkörpert, kurz: kein Gegenkonzept zur Natur, wie es viele Lehren aufstellen, sondern das Göttliche in der Natur, nicht "ganz anders", sondern eins mit der Welt. Eine heidnische Gottheit ist ein konkreter Aspekt des Geistes, der die Wirklichkeit dieser Welt durchwebt, mit ihr lebt und stirbt, in ihr wirkt und sich entfaltet: kein abstrakter, ewiger Geist, sondern ein lebendiger.
 

Der Große Geist des weißen Mannes
 

Unsere heidnischen Brüder in Amerika, die Indianer, nennen diesen Geist des Göttlichen in der Natur, der sich ihnen in der Vielzahl der Geister (spirits) und Gottheiten zeigt, den "Großen Geist" oder, exakt übersetzt, das "Große Geheimnis" (Manitu, Orenda oder Wakan Tanka). Als die weißen Missionare kamen, gaben sie ihren Gott als den Großen Geist aus, aber sie hatten ihn in enge Lehren gezwängt und ihm dadurch das Wichtigste genommen: das Geheimnis. "Der weiße Mann kennt den Großen Geist nicht", sagen deshalb die Indianer. Aber darin irren sie sich.
 

Die Germanen, berichtet Tacitus, "benennen mit den Namen der Götter jenes Geheimnis (secretum illud), das sie in einziger Ehrfurcht schauen". Das ist fast wörtlich das "Große Geheimnis" der Indianer! Die native Europeans kannten den "Großen Geist" sehr wohl, bevor auch ihnen fremde Missionare einredeten, er wäre ein einzelner Gott – und sogar seinen Namen stahlen! Denn "Gott", gotisch goth (goþ), ist ursprünglich ein sächliches Mehrzahlwort und bedeutet eben jenes Geheimnis, das wir in den Göttern verehren.
 

Das Göttliche und die einzelnen Götter
 

Goth nannten unsere Vorfahren nur das Göttliche als Ganzheit. Die einzelnen Gottheiten, in denen es sich manifestiert, wurden teiwar oder ansis genannt. Teiwar (Einzahl teiwaz) ist dasselbe Wort wie das lateinische di und bedeutet "Lichtwesen". Ansis (Einz. ansuz) hängt vielleicht mit indisch asu (Lebenskraft) zusammen, sicher aber mit germanisch ans (Pfahl), denn die Götter wurden vor einfachen Holzpfählen mit angedeuteten Gesichtszügen verehrt. Diese Pfähle waren keine Götterbilder, sondern deuteten nur an, dass eine Gottheit anwesend ist. Aus ansis ist der nordische Name Æsir (Asen) entstanden. Er kann daher nicht nur für die Götter dieses Stamms, sondern für "Götter" im allgemeinen verwendet werden, auch wenn wir Asen und Vanen meinen.
 

Die Ganzheit der Götter
 

Wenn man sich zu sehr auf einen einzelnen Gott konzentriert, vergisst man leicht, dass er nicht das ganze Göttliche ist. Deshalb verehren wir immer alle Götter gemeinsam, wie es im dänischen Mythos Odin angeordnet hat. Ihre Ganzheit, in der sie wirken, wird mythisch durch das Götterthing dargestellt, in dem sie ihr Handeln demokratisch beraten. Daher heißen sie in der Edda regin, altdeutsch regan, die Beratenden.
 

Die beiden Pole der Gottes Erfahrung
 

In den Mythen begegnen wir den konkreten Einzelgestalten der Götter, in den Riten steht ihre Ganzheit, jenes Geheimnis (goth), im Mittelpunkt. So bewegt sich die heidnische Gottes Erfahrung immer zwischen diesen beiden Polen: Goth und Ansis, unbenanntes Geheimnis und konkrete Gestalt. Beide Erfahrungsweisen sind wichtig, gehören zusammen und ergänzen einander. Beide sind wahr, aber keine ist die ganze Wahrheit. Nur in der Zusammenschau kommen wir ihr nahe.
 

Mit Göttern kommunizieren
 

Vielen Menschen fällt es leichter, das Göttliche als Geheimnis zu verehren, das man sich nicht konkret vorstellen kann. Es genügt ihnen zu wissen, daß es existiert. Bei Göttern wollen sie genau wissen, was sie sind: selbständig existierende Geistwesen? Persönlichkeiten des Großen Geistes? Gesichter, die er uns zeigt? Auch im Heidentum gibt es viele verschiedene Ansichten darüber, die für den Verstand nützlich, aber nur Vorstellungen und nicht die Wahrheit selbst sind. Denn wenn sie – auf welche Art auch immer – eins mit dem Großen Geheimnis sind, dann sind die Götter, auch wenn sie noch so konkret erscheinen, letztlich ebenso geheimnisvoll und nichts, worüber man endgültig und eindeutig Bescheid wissen kann. Das ist aber auch gar nicht so wichtig. Religion, Spiritualität oder Magie ist nicht Philosophie über das Göttliche, sondern Kommunikation mit ihm, und dazu ist es nicht nötig zu wissen, was es ist, mit dem du redest. Du musst nicht einmal an Götter glauben. Selbst wenn du sie nur für Symbole des Geheimnisses hältst, kannst du von ihnen viel erfahren und über sie "zum Großen Geist sprechen".
 

Götter in Mythos und Kult
 

Viele Gottheiten kommen in den Mythen vor, wurden aber nie kultisch verehrt. Man tut daher gut daran, sich nur mythisch mit ihnen auseinanderzusetzen, also in Dichtung und Erzählung, und nicht auch irgendwelche Riten für sie zu ersinnen oder viel über ihr Wesen zu grübeln. Was immer sie sind, sie gehen uns offensichtlich nur als mythische Gestalten etwas an. Das ist die Art, in der sie unser Bewusstsein erreichen und erweitern können. Es ist sinnvoll, sich mit möglichst vielen Gottheiten auseinanderzusetzen, wie der Runenmagier Jan Fries sagt: "Je mehr Götter du in dein Leben integrierst, desto umfassender wird die Welt, die du erlebst."